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Seit es mich gibt, ist stets ein Auge auf mich zu haben. Mir fehlt die Fähigkeit, mich zurecht zu finden. Meine Augen sind von Geburt an unzulänglich, aber das ist nicht der Grund dieses Mangels an Orientierung. Ich kann oder will mir die Welt hinter der nächsten Ecke nicht vorstellen. Und habe ich diese nächste Ecke erreicht und umschritten, so ist der Weg davor vergessen. Dessen bin ich mir bewusst.

So orientierungslos ich im Raum bin, umso auffälliger ist doch meine Begabung für das Fühlen von Zeit. Während ich mich im scheinbar ständig fremden Raum bewege, kann ich das Ablaufen der Zeit spüren. Wie ein kalter und kranker Strom aus Schweiß rinnt die Zeit an mir herab. Seit Jahren fühle ich so. Zum Beweis meiner Anomalie könnte ich Ihnen die genaue Zahl dieser, seit dem Beginn dieses Fühlens vergangenen Minuten sagen. Aber es wäre für sie ohne Nutzen. Es wäre für sie nur eine Zahl.

Es steht mir nur eine Erinnerung zur Auswahl, eine fürchterliche und beklemmende Erinnerung. Aber ich muss ihr folgen, weil sie die einzige ist und ich folge ihr wie ein Bär den Gittern seines Käfigs. Immer wieder und schon seit Jahren verloren.

Wir sind in einer fremden Stadt und ich bin ein Kind. Ich fühlte mich auch in meiner eigenen, kleinen Stadt fremd und war erst als Halbwüchsiger imstande, sie mir als zweidimensionales und demzufolge durchschaubares und beherrschbares Objekt vorzustellen. Dennoch ist mir dieser Ort meiner einzigen Erinnerung in einer höheren Qualität fremd. Es muss ein Ausflug, eine geplante Fahrt gewesen sein.

Wir sind wie gewöhnlich. Meine Mutter, meine warme und geliebte Mutter, trennt sich aus unbekanntem Grund von uns und ich bleibe bei meinem Vater. Er trägt einen braunen Pullover, obwohl es schon relativ warm ist. Der Rücken ist dezent mit Kristallformen gemustert. Mein Vater riecht herb und vertauenserweckend. Aber er nimmt mich niemals an die Hand. Er geht schnell und es fällt mir schwer, ihm zu folgen. Die Schritte, die Meter im Fremden, wachsen zu einem Kloß in meinem Hals. Und je länger der unbekannte Weg dauert, desto größer wird meine Anspannung. Schließlich kann ich gar nichts mehr sagen, vor Angst. Ich komme überhaupt nur noch voran, weil mein Vater es auch tut und weil er überhaupt vor mir geht. Nach Straßen und Abzweigen, deren Verlauf ich schon längst nicht mehr nachvollziehen kann, erreichen wir einen langen und geraden Weg, der bis zum Horizont zu reichen scheint. Er ist gesäumt von eisernen Toren ohne Schmuck. Nur senkrechte Stangen mit abblätternder Farbe. Am Grad der Verrottung kann man die Abgrenzung der einzelnen Grundstücke erkennen. Und an den Hunden.

Böse, still und keuchend kreisen sie hinter den eisernen Toren. Undefinierbare Rassen – jedes Tier ein Bastard aller Nachbarn. Allesamt Teufel. Nur mein Vater sieht sie nicht oder wird nicht von ihnen beunruhigt. Wie sehr ich mir seine Ruhe auch wünsche – ich frage mich, ob er irrt und werde fast wahnsinnig. Ich versuche ihn einzuholen und ihn zu fassen. Endlich kann ich ihn erreichen und packe mit aller Kraft zu. Erst während er sich dreht, erkenne ich, dass wir am Ende des Weges sind und ich möchte schon erleichtert sein. Aber was ich dann sehe macht mich kalt. Der Mann, der sich dreht, der Mann, dem ich folge, ist nicht mein Vater. Er ist irgendjemand. Ich kenne nur den Pullover.

Ohne zu Zögern renne ich los. Ich muss zurück an die Stelle, an der ich meinen Vater verloren habe oder an der wir uns von meiner Mutter getrennt haben. Also fliehe ich ohne zu zögern den Weg der bösartigen Hunde entlang, weil ich keinen anderen kenne. Während ich renne, geschieht Seltsames: Mit jedem meiner Schritte gewinnen die Leinen und Ketten der Hunde an Länge. So dass die Hunde und ihre fürchterlich riechenden Lefzen, ihre rotumrandeten Augen und die gelben Zähne – so dass alles näher an die Gitter kommen kann und schließlich recken sie ihre Hälse durch die breiten Gitter hindurch. Ich drehe mich um – nicht richtig, mehr versuche ich, was hinter mir ist zu ahnen – die Hunde in meinem Rücken stehen schon auf dem Weg und warten wohl, ob die anderen noch von mir übrig lassen.

Ich habe mir später gedacht, dass ich mir vielleicht doch alles nur eingebildet habe. Vielleicht nicht alles, aber wenigstens die schlimmsten Bilder. Ich weiß auch nicht, wie die Hunde auf den Weg kommen konnten, wenn die Tore doch verschlossen waren. Denn in meiner Erinnerung war niemand außer mir auf diesem Weg, auf dieser Bühne. Oder war nur niemand da, weil ich den, der da war, nicht sehen wollte?

Es ist ein stiller Moment, als der erste aus der Meute frei vor mir steht. Ein dunkler und glänzender Rüde. Er scheint der König der anderen zu sein und er hat keine Narbe und keinen Makel. Er öffnet sein Maul und knurrt nur kurz vor dem Sprung. Und eigentlich knurrt er nur mit den Augen. Um nicht auf sein Maul sehen zu müssen, sehe ich auf seine Pfoten die den Sand des Weges beim Absprung knirschend nach hinten drücken. Und obwohl die anderen, die billigeren Hunde auf den billigeren Plätzen einen ungeheuren Lärm verursachen müssen, so höre ich doch nur das Knirschen des Sandes unter den Füßen meines Mörders.

Er muss mir direkt an die Kehle springen. Jedenfalls ist das sein Ziel, wie ich schätze. Ich kann nicht bestätigen, dass man in den letzten Momenten das Leben als Film zu sehen imstande ist. Vielleicht hatte auch mein junges Leben einfach noch keine Szenen hergegeben und deshalb bleibt in diesem Moment, in dem ich den Tod durch einen Biss in meinen Hals erwarte – deshalb bleibt mir in diesem Moment nur übrig, alles von mir zu geben. Alle Angst verlässt mich mit einem dünnstimmigen Schrei und mein Leib entlädt sich in meine Hose, wie ich erst später im Krankenhaus bemerke. Dort wird mir meine Hose wieder begegnen, über einen Stuhl gelegt. Ein Kriegsveteran, ungewaschen: mehr aus Respekt denn aus Nachlässigkeit.

Der schwarze Hund reißt mich um, indem er meinen Hals eisern packt und seinen kräftigen Körper an mir vorbei fliegen lässt. Als der Rumpf meinen Kopf passiert, fliege ich hinterher. In meiner Erinnerung gibt es kein Aufkommen, keine Landung nach dem Flug mit dem Hund. In meiner Erinnerung gibt es kein Blut und keine Verletzung - keine silbrigen blanken Knochen meiner Unterarme, keine pulsierenden Flüsse aus meinem geöffneten Körper, kein rotes Versickern.

Die Frau, die mich findet, erbricht sich augenblicklich und direkt neben meinen Kopf. Ich weiß es aus der Unterhaltung zweier Chirurgen. Sie versucht sich zu beruhigen und geht dann langsam in ihr Haus, um die Polizei anzurufen. Sie schleicht, weil sie mich für tot hält. Ihr Mann prügelte inzwischen ein Stück meines linken Unterarmes aus dem schwarzen Hund, das mir noch heute fehlt. Es ist der einzige physische Verlust, den ich erlitten habe. Der Mann prügelt weiter, auch als der Hund längst alles von sich gegeben hat. Vielleicht ist es sein Hund und er will es verbergen oder verdrängen. Er tötet den Hund schließlich, indem er auf sein Herz tritt. Jedenfalls stelle ich es mir so vor. Ich bin eigentlich tot.

Es fehlen einige Stunden. Ich selbst war noch in Narkose als meine Eltern das Krankenhaus fanden und an mein Bett kamen. Ich erinnere mich noch daran, wie Sie mich ansahen, als ich erwachte. In Mutters Gesicht sah ich die Sorge um mich. Im Gesicht meines Vaters sah ich eine andere Sorge. Seine Augen sahen durch meine hindurch und er wirkte fahl und abwesend. Ich erschrak über ihn mehr als über meine Erinnerung an die Hunde.

Und erst viel später, genau genommen Jahre später, schlich sich eine Ahnung in mein Denken, wie eine kleine listige Lüge; eine Ahnung die das fahle und verlorene Gesicht meines Vaters erklären konnte. Und ein furchtbarer Gedanke begann mich zu besitzen, so furchtbar, dass ich ihn zu Ende zu denken eigentlich nie imstande war. Aber je öfter ich mich zu erinnern glaubte, desto mehr wurde das Undenkbare zur Wahrheit.

Der fremde Rücken war der Rücken meines Vaters. Ich sehe ihn vor mir den sandigen Weg gehen und sehe seine Hände die Riegel der Tore öffnen. Es ist Mittag und die Menschen ruhen und den Hunden treibt die Langeweile die Mordlust ein. Am Ende des Weges dreht sich mein Vater um und sein Gesicht ist eine brüllende Fratze. Er brüllt mich fort und ist fremd. Nur seinen Pullover kenne ich. Aber der ihn trägt ist mir fremd und ich beginne den Weg hinab zu gehen und die Hunde beginnen lauter zu bellen. Und ich weiß dass sie mich töten sollen.

Es ist mein Leben. Ich kann oder will mir die Welt hinter der nächsten Ecke nicht vorstellen. Und habe ich diese nächste Ecke erreicht und umschritten, so ist der Weg davor vergessen. Nur dessen bin ich mir bewusst.