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Dass Melissa überhaupt außer der Reihe den Wunsch verspürte, mich zu sehen, war neu und überraschend. Nun soll das nicht heißen, dass unsere Freundschaft etwas zu wünschen übrig ließ. Im Gegenteil, ich möchte behaupten, dass Melissa mir näher stand als irgendeine andere Person, und von ihr kann ich wohl guten Gewissens das Gleiche sagen.
Zu dieser Zeit zog ich gerade ernsthaft in Erwägung, Pauls Antrag anzunehmen. Mein Leben lang war ich beharrlich in den wilden Gewässern vor dem Hafen der Ehe umhergekreuzt. Jetzt war es wohl doch langsam Zeit für mich, dort einzulaufen. Paul konnte ja durchaus der letzte Mann sein, der mir gegenüber ein solch schmeichelhaftes Ansinnen bekundete. Und nicht zuletzt Melissa und Edward machten mir mit ihrer vorgelebten Musterehe die Sache schmackhaft.

Ich freute mich darauf, die beiden wieder einmal zu sehen, denn ich mochte auch Edward sehr. Er arbeitete bis zu seiner Rente als Anwalt. Melissa hat sich sehr darauf gefreut, dass sie endlich mehr Zeit füreinander haben würden. Früher hatte sie sich nie darüber beklagt, dass Edward oft erst spät aus der Kanzlei kam. Ich fand das dumm und bewundernswert zugleich.
Im Zug begann ich nach einem möglichen Grund für ihren Anruf zu suchen. Ihre Stimme hatte nicht aufgeregt geklungen, doch schien mir die Sache dringlich. Ich kannte Melissa gut genug, um zu wissen, wie gut sie ihre Gefühlsregungen verbergen konnte. Mein erster Gedanke war, es könnte etwas mit Edward passiert sein, schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Vielleicht war auch sie selbst krank. Glücklicherweise ließ die kurze Zugfahrt meiner Fantasie nicht allzu viel Zeit.
Melissa erwartete mich am Bahnhof. Ihre Wangen waren rosig, und sie machte auf mich den gewohnt ruhigen Eindruck, was mich ungemein erleichterte. Einzig Ihre Frisur schien mir ein wenig aus der Form geraten. Auf dem Weg zu ihrem Haus wurden wir von fast allen Leuten gegrüßt, die uns entgegenkamen. Ich glaube, meine Freundin genoss diese Art der Anerkennung sehr, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.

Sie setzte einen Tee an und brachte das Geschirr auf den Verandatisch. Währen der ganzen Zeit war noch kein Wort darüber gefallen, welchen Grund unser Kränzchen eigentlich hatte. Ich lehnte mich zurück, um mich zu entspannen – vorsichtig, da der Sessel mich mit einem leisen Knarren darum bat. Melissa schenkte lächelnd duftenden Darjeeling ein. Sie nahm mir gegenüber Platz, und richtete ihren Blick auf den Garten.
»Es ist sehr schön um diese Zeit hier. Edward hat die Rosen wieder aufgepäppelt, ich habe damit kein Glück. Er meint immer, bei mir würden sogar künstliche Blumen verdorren. Ich finde das ziemlich frech.«
Sie starrte in den Garten, als habe sie mit sich selbst gesprochen. Ich nippte am Tee und sah sie von der Seite an. Es galt unter uns beiden schon immer als Sport, keine neugierigen Fragen zu stellen, sondern abzuwarten. Sie ächzte ein wenig, als sie sich vorbeugte. Ich schob ihr die Schatulle mit ihren Zigaretten entgegen. Ohne Hast entzündetet sie ein Streichholz und blies es mit dem Rauch des ersten Zuges aus. Sie behielt es in der Hand und verharrte einen Moment. Dann schnippte sie es auf den Rasen.
»Helen, ich glaube, Edward ist weg.«
Sie wendete mir ihr Gesicht zu. Sie hatte ihre Worte eigenartig versonnen artikuliert, so hätte sie mir auch erzählen können, dass sie einen neuen Hut kaufen wollte. Sie lächelte noch immer.

Die Verarbeitung ihres Satzes ging bei mir nur sehr schleppend voran. Wie konnte man glauben, dass jemand verschwunden sei? Ich unterdrückte diese logische Frage und sah meine Freundin einigermaßen verwirrt an. So konnte ich nichts falsch machen. Melissa hatte verstanden, sie legte ihre Beine auf einen Hocker und verschränkte die Hände vor dem Bauch. So saß sie immer da, wenn sie etwas zu erzählen hatte. Wie gesagt, wir kannten uns ziemlich gut. Ich nahm gehorsam und voller Erwartung die Zuhörerstellung ein.

»Ich habe bisher noch niemandem davon erzählt. Es begann wenige Wochen nach seinem Geburtstag. Abend für Abend saßen wir im Wohnzimmer, hörten Platten und lasen etwas. Edward versuchte mir zu erklären, wie sich die Kurse der Aktien entwickelten, die er vom Erlös der Kanzlei angeschafft hatte, oder er ließ seine politischen Gedanken auf meinen dafür so unfruchtbaren Boden fallen... Wenn wir Kinder gehabt hätten, wäre unser Auswahl an Konversationsthemen vielleicht nicht so spärlich ausgefallen. Früher war mir dieser Mangel nie bewusst, weil ich meinen Mann ja kaum für eine Stunde am Tag zu Gesicht bekam. Trotzdem war es kein unangenehmer Zustand. Mit der Zeit schien seine Energie etwas nachzulassen. Ich war kein guter Zuhörer, geschweige denn ein Diskussionspartner für ihn, zu dessen Beruf der Disput ja einst gehört hatte. Du kennst vielleicht diese Situation: Jemand sagt etwas zu dir, aber du überhörst es einfach. So etwas geschieht nicht unbedingt aus bösem Willen, es ist eher eine unhöfliche Nachlässigkeit. Allmählich häuften sich die Abende, an denen ich kein Wort von Edward vernahm. Nur ich sprach ab und zu unvermittelt ein paar Sätze in die Leere. Dieser eigenartige Zustand dehnte sich langsam auf den ganzen Tag aus. Ich machte mir wenig Gedanken darüber, weil es für mich ja nicht unbedingt ein Defizit bedeutete. Ich empfand es eher als das Maximum von Harmonie. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die erschreckende Erkenntnis gewann, dass meine vermeintlich unvermittelt gesprochenen Sätze allesamt Antworten auf ungestellte Fragen waren. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Sie hatte sich aufgerichtet und sah mich herausfordernd an. Ihr Lächeln irritierte mich jetzt ein wenig. Ich nickte und log damit, worauf sie wieder zurücksank und fortfuhr.
»Ich hörte Edward einfach nicht mehr. Du kannst Dir vorstellen, wie durcheinander ich war, als mir das klar wurde. Mein Gehör war ohne Makel, wie ich am Grammophon feststellen konnte. Auch für Edward hatte sich anscheinend nichts verändert. Ich wusste ja auch immer, was er sagte, und reagierte erwartungsgemäß. Es ist so, wie mit dem lauten Schlagwerk unserer Uhr. Du weist ja noch, wie ich mich aufgeregt habe, als er eines Tages diesen monströsen Chronometer aus der Kanzlei nach hause mitbrachte. Anfangs blieb mir zu jeder vollen Stunde beinahe das Herz stehen, aber nachdrei Monaten nahm ich die dröhnenden Schläge überhaupt nicht mehr wahr, obwohl dieser Gong einen wirklich zu Tode erschrecken kann. Ebenso muss es mir mit Edward gegangen sein. Schockierend nicht? Aber mir blieb natürlich nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden. Es war nicht unbedingt unangenehm.«

Melissa machte eine Pause, um sich eine neue Zigarette anzuzünden.
»Irgendwann konnte ich ihn auch nicht mehr sehen. Das war ja dann nur eine logische Folge.«
Sie wiegte ihren Kopf sanft hin und her, als folge sie dem Takt einer imaginären Musik, und schien meine Verblüffung auszukosten.
»Du willst mir also allen Ernstes erzählen, dass du ihn nicht mehr siehst? Hast du mich deswegen angerufen?«
Zum ersten Mal lächelte sie nicht, sondern zeigte eine leicht beeidigte Miene.
»Glaubst du etwa, dass ich lüge? Ich dachte, du bist meine Freundin.«
Ich hob besänftigend die Hand, was sofort auf Melissa wirkte.
»Na gut, auch wenn du es nicht glaubst, es war weit weniger schockierend, das festzustellen, als ihn nicht mehr zu hören. Warum ich allerdings die Standuhr noch sehe, weiß ich nicht. Ihr Äußeres ist doch wirklich viel abstoßender, als das meines Mannes.«
Ich weiß nicht, ob mich ihre Haltung aufregte oder ob ich einfach ungeduldig wurde.
»Wenn dir das alles nichts ausmacht, warum hast du mich dann hergerufen?«
»Weil...« Sie zögerte und trank erst einmal einen Schluck Tee. »Heute früh...« Sie räusperte sich. »Also sonst steht morgens immer noch sein Geschirr da. Du weißt ja, dass er ein Frühaufsteher ist und wir niemals gemeinsam gefrühstückt haben. Heute aber habe ich nichts gefunden. Da begann ich mir Sorgen zu machen. Vielleicht ist das ja auch völlig unnötig.«
Wahrscheinlich war ich so ungehalten, weil mein Mythos von der idealen Ehe der beiden gerade wie altes Gemäuer zerbröckelte. Jedenfalls wollte ich gerade sehr unwirsch reagieren, als Edward mit der Angel in der Hand durch den Garten geschritten kam. Er trug weite Gummihosen und einen Strohhut und sah mich mit erstauntem, doch überaus freundlichem Lächeln an.
»Helen, was für eine Freude, dich zu sehen!«


Er wollte mir einen Kuss auf die Wange geben, wie er es immer tat. Als er sich zu mir niederbeugte, gab ich einem verrückten Einfall nach. Ich sagte leise:
»Wie geht es Melissa?«
Er kratzte sich verlegen am Kopf.
»Ach Helen, weißt du, ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen...«




© 2003 Christoph Krumbiegel