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Die Bilder von Madame

Wir Menschen sammeln ein Leben lang Erinnerungen, Gefühle und Bilder. Die unangenehmen Momente versuchen wir sofort zu vergessen. Die guten Erinnerungen holen wir immer und immer wieder hervor, solange bis sie ganz blass sind oder vielleicht gar nicht mehr wahr. Und mit den Gefühlen ergeht es uns ebenso. In uns bleiben nur die Bilder jung. Nur die Bilder betrügen uns nie.

Louis roch, wo immer er war und was immer er gerade tat, ein wenig nach Firnis und Farbe. Striche und Fingerabdrücke zierten seinen Strohhut und unter den Fingernägeln fand sich stets etwas bunter Schmutz. So kannte und mochte man ihn beim Bäcker, in der Gemeinde und im Tennisclub und niemand hätte ihn anders gewollt - niemand bis auf Yvonne vielleicht. Seine Frau Yvonne war eine äußerst energische Person. Ihre Vorfahren stammten aus dem Norden und da habe man sich nicht nur gegen die Kälte durchzusetzen gelernt, pflegte sie zu kokettieren. Ihre zielstrebige und kraftvolle Art hatte Louis stets imponiert. Zu der Zeit als die beiden begannen, gemeinsam auszugehen, war eine so starke Frau wie Yvonne etwas sehr Besonderes gewesen. In den letzten Jahren hatte er sich jedoch im Stillen gewünscht, sie möge ein wenig gelassener gegenüber der Welt und sich selbst werden. Er hatte einfach nicht mehr den Atem für ihre schnellen Schritte und er fragte sich, ob dieses Tempo in allen Bereichen ihres Lebens überhaupt noch notwendig war. Nach dem Verkauf seiner Kanzlei hatte er versucht, sich kleine Inseln abseits der üblichen Kreise zu schaffen, abseits der Partys, Stiftungssitzungen und anderer Unwichtigkeiten. Und wie gerne hätte er ihr diese Inseln gezeigt. Aber all seine spät entdeckten Passionen schienen Yvonne nur eine Verschwendung von Zeit zu sein und sie duldete den Nachgang dieser Interessen nur, wenn die grundlegenden Verpflichtungen eingehalten wurden. Und das hieß bei Yvonne Beten, Bett und Bridgeclub.

Bereits in den Jahren vor dem Ruhestand hatte Louis seine Leidenschaft für das Malen entdeckt. Am Anfang noch recht unbeholfen und naiv, war es ihm im Laufe der Zeit doch gelungen in Technik und Intension entscheidende Fortschritte zu machen. Ganz ohne Ehrgeiz hatte er so seine ersten kleinen regionalen Erfolge genießen dürfen und es begann in ihrem Viertel ganz schick zu werden, sich von Louis portraitieren zu lassen. In der ersten Sitzung versuchte er Aufteilung und Farbstimmung festzulegen. Dann arbeitete er einige Tage allein unter Verwendung von Polaroidfotos um das Bild schließlich in zwei bis drei Arbeitsgängen mit dem Modell fertig zu stellen. Den Erlös dieser Bilder ließ er die Portraitierten an eine Organisation ihrer Wahl spenden. So machte ihm die Sache nicht nur Spaß, sondern wies auch noch eine gewisse Gemeinnützigkeit auf. Deswegen und nur deswegen gewährte ihm Yvonne die zwei oder drei täglichen Stunden in seinem kleinen Atelier.

Eines Tages begann Louis mit einem Bild von Yvonnes Kater Mexiko. Obwohl seine Frau ihm seit über dreißig Jahren die Anschaffung eines Hundes hartnäckig untersagte, hatte sie sich hingegen wie selbstverständlich einen kleinen Begleiter zugelegt. Louis mochte das Tier nicht recht leiden, was vor allem auf dessen Namen zurückzuführen war. Einige Jahre zuvor hatte Yvonne sich eine Reise nach Mexiko in den Kopf gesetzt. Louis äußerte von Anfang an Bedenken. Tom, ein guter Internist und noch besserer Freund, riet ihm wegen einiger Herzprobleme ohnehin von Fernreisen ab und die Kanzlei hatte gerade zwei bedeutende Klienten verloren. Widerstrebend und fast beleidigt, hatte Yvonne damals klein bei gegeben, sich aber auf der Ersatzreise nach Schweden einen Kater zugelegt, den sie dann Mexiko nannte. Und das nur, um Louis jeden Tag in den folgenden Jahren an diese verweigerte Reise zu erinnern, ganz einfach, indem sie ihren Kater rief. Mexiko war außerdem für einen Kater recht dumm und fett geworden, wie Louis fand. Jedenfalls malte er ihm in einer weinseligen Stunde und mit großem Vergnügen ein drittes Paar Beine unter den dicken Katerbauch.

Am nächsten Morgen rüttelte ihn Yvonne sehr früh und sehr aufgeregt aus dem Schlaf.
»Louis, Louis bitte wach auf, es ist etwas mit Mexiko passiert. Er hat irgendwie zu viele Beine...«, sagte sie mit grotesker Ernsthaftigkeit.
Louis war noch viel zu benommen, um überhaupt zu verstehen, was Yvonne ihm da erzählte. Als er seinen Morgenmantel übergezogen hatte und ihr in die Küche gefolgt war, traf er dort unverhofft auf Doktor Bent, einen der vielbeschäftigtsten Tierärzte, und auf Mexiko, einen der vielbeinigsten Kater. Doktor Bent robbte um Mexikos Körbchen herum und blieb seinen ganzen Besuch über fassungslos.
»Also, es ist kein Tumor, das wäre auch ungewöhnlich, in dieser Symmetrie. Außerdem kann ich deutlich Gelenke fühlen. Um Genaueres zu sagen, müsste ich ihren Kater einmal durchleuchten, aber eigentlich lässt diese erste Untersuchung keinen anderen Schluss zu: sie haben den einzigen sechsbeinigen Kater der Welt. Ich gratuliere ihnen! Und sie haben das bis heute wirklich niemals bemerkt?«
Yvonne konnte nur den Kopf schütteln. Irgendwie überkam Louis das Gefühl, dass Doktor Bent den guten alten Mexiko am liebsten sofort in Formalin gelegt hätte, um in auf Kongressen herumzureichen. Er versorgte Yvonnes kleinen Freund mit Futter und brachte den ausgesprochen interessierten Doktor zur Tür. Dann gab er seiner Frau zwei Valium und während sie schlief, brachte er das Bild vom Kater in Ordnung. Als er zur Kontrolle nach Mexiko sah, strich dieser friedlich schnurrend um Louis herum, als hätte er niemals sechs Beine gehabt. »Das ist phantastisch!« flüsterte er leise vor sich hin.

Die Sache blieb zunächst ein Geheimnis zwischen Herr und Kater. Yvonne hatte sich nach dem Tiefschlaf an nichts mehr erinnern können und Doktor Bents Nachfragen löschte Louis vom Anrufbeantworter. Schließlich teilte er ihm mit, das Tier sei bei Straßenarbeiten verschüttet worden. Louis begann nun Selbstportraits, Stilleben und Außenansichten ihres Hauses zu malen. In einer unermüdlichen Schaffensphase gestaltete er ihren ganzen Lebensraum neu, ohne auch nur einen Hammer oder einen Cent in die Hand nehmen zu müssen. Und was er tat, das tat er behutsam und weise. Der alten Admiralswitwe von Gegenüber malte er den Rücken wieder gerade, dem Milchmann entfernte er eine Hasenscharte und vor Weihnachten besserte er die Risse im Kirchturm aus. Alles hätte wunderbar werden können, wenn Yvonne nicht eines Tages in einem Delikatessengeschäft Doktor Bent begegnet wäre. Sofort stellte sie Louis zur Rede. Es schien vollkommen zwecklos, etwas abzustreiten. Doktor Bent hatte Yvonne sogar Photos vom sechsbeinigen Mexiko gezeigt, die er wohl gemacht haben musste, als Yvonne ihn damals aus dem Bett geholt hatte. Und so erzählte Louis, was er unbedacht mit seiner Karikatur vom Kater ausgelöst hatte und er deutete vorsichtig an, dass er eigentlich jedwedes Objekt zu verändern imstande war, einfach indem er es auf die Leinwand brachte. Yvonne kochte vor Wut.
»Beweise es mir! Sofort! Mit...mit diesem Ring!«
Sie hielt ihm einen ohnehin stattlichen Brillianten unter die Nase. Louis zuckte mit den Achseln, ging in sein Atelier und Yvonne folgte ihm forsch.
»Wie viel Karat soll er denn haben?«, fragte Louis.
»Was weiß ich – mach ihn einfach dreimal so groß, wenn du das überhaupt kannst.«
Louis suchte ein Portrait von Yvonne und vergrößerte den abgebildeten Ring auf den Umfang einer Mandarine. Als er hinter der Leinwand hervortrat, bestaunte Yvonne mit offenem Mund und Tränen in den Augen ihren Stein. Sie blickte auf und zum ersten Mal in seinem Leben sah er in ihren Augen so etwas wie Bewunderung für ihn. Und dieser Blick stach ihn mitten ins Herz.

Hatte sich seine Gattin auch bisher nicht im Geringsten für seine Arbeiten interessiert, so ließ sie sich jetzt so häufig von ihm malen, dass er für fremde Aufträge schon fast keine Zeit mehr finden konnte. Ganz leise machte sie ihn während der Arbeit darauf aufmerksam, dass im richtigen Licht wohl die Fältchen unter ihren Augen so wenig in Erscheinung traten, dass man sie eigentlich auf der Leinwand auch nicht mehr andeuten müsse. Und sie bestand hartnäckig darauf, dass sie das leichte Schielen erst seit einem seiner ersten Bilder von ihr aufwies und dass er diesen Umstand bitte umgehend wieder zu korrigieren hätte. Und Louis gab ihr den schönsten, klarsten und ungetrübtesten Blick, den je eine Frau bekam, obwohl er genau diesen kleinen Schönheitsfehler seit ihrem ersten Treffen so geliebt hatte. Kaum ein Tag verging ohne eine kleine, nachdringliche Bitte für sie, ihre Familie oder den Garten. Louis arbeitete mehr denn je und sein Freund Tom runzelte bei der nächsten Untersuchung die Stirn.
»Du solltest wirklich etwas kürzer treten. Was treibst du nur die ganze Zeit. Ich mache mir Sorgen um dich. Leg dir einen Hund zu oder ein Fahrrad und komm ein wenig zur Ruhe«, hatte er ihm mit auf den Weg gegeben. Und Louis versprach ihm, sich ganz bestimmt daran zu halten.

Einige Tage später stürmte unvermittelt Yvonne ins Atelier: »Kannst du mir bitte sagen, was du mit unserer Nachbarin zu schaffen hast? Ich habe sie eben getroffen. Und da hat sie doch plötzlich keine einzige Falte mehr und ein so atemberaubendes Dekollete, dass dem Milchmann die Augen herausfallen!«
Louis sah sie nur fragend an und brachte kein einziges Wort heraus. Yvonne kam immer mehr in Fahrt: »Ich meine, man weiß ja, wo man selber steht, aber das muss ich mir nicht bieten lassen, so direkt vor meiner Haustür. Deine eigene Frau lässt du aussehen wie einen Truthahn und kümmerst dich lieber um dieses...diese Person. Ich werde dir sagen, was du zu tun hast. Ich begebe mich jetzt zur Ruhe und du wirst dich sofort um meine Bilder kümmern. Und wenn ich morgen aufwache, dann will ich eine ästhetische Sensation sein. Haben wir uns da verstanden!«
Ohne eine Antwort abzuwarten machte sie auf dem Absatz kehrt und knallte die Türe hinter sich zu. Louis sah ihr noch lange nach. Dann begann er mit ihren Bildern.


Louis hatte die ganze Nacht gearbeitet, dennoch fühlte er sich am Morgen frisch und voller Tatendrang. Beim Frühstück klingelte das Telefon. Als er den Hörer abnahm, kam Yvonne verschlafen in die Küche getrottet.
»Oh, nett, dass sie anrufen, Doktor Bent. Nein, meine Frau ist leider nicht zu sprechen...Ja ganz recht, für länger. Aber vielleicht könnten sie bei Gelegenheit nach meiner Hündin schauen, sie wirkt irgendwie so...so beleidigt...«, sagte er und legte lächelnd auf.