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Ich neige zu übertriebener Neugier. Es hat mir lebenslang nur Ärger eingebracht, aber wider besseren Wissens kann ich mich nicht dagegen wehren. Normalerweise verspiele ich durch sie erstklassige Gelegenheiten, verliere gute Freunde oder gerate in peinliche Situationen. Heute wird sie mich wohl mein Leben kosten.
Von der siebenten Etage aus hat man einen guten Blick auf die ganze Allee. Das Kaufhaus gegenüber funkelt mit abertausend Lampen. Die Marketingabteilung hat große Lautsprecherboxen aufgestellt und tapeziert den Boulevard mit amerikanischer Weihnachtsdudelei. Frauen in langen Mänteln schieben sich aneinander vorbei, bepackt mit sperrigen Tüten oder sperrigen Kindern. Manchmal bewältigen sie sogar beides gleichzeitig, sind aber dann deutlich langsamer als die Konkurrenz. Es ist so kalt wie seit zwanzig Jahren nicht mehr und die Hälfte der Masse da unten besteht aus Winterkleidung und dicker Unterwäsche. Ein Taxi fummelt sich durch die Menschen und bleibt vor dem Haus stehen. Dem Fahrer ist es anscheinend zu kalt um auszusteigen. Auch mir ist die Kälte schon in die Finger gekrochen und lässt sie unangenehm kribbeln. Aus dem Hauseingang löst sich eine Frau mit einem großen Hut. Dahinter folgt ein kräftiger Mann in einem Weihnachtsmannkostüm. Er trägt mehrere Taschen zum Kofferraum und verstaut sie hastig. Dann reißt der Weihnachtsmann die Tür des Taxis auf und ist der Dame beim Einsteigen behilflich. Sie sieht kurz zu mir hinauf, bevor Sie in den Wagen gleitet. Sie lächelt. Ich glaube sogar, sie winken zu sehen. Der Weihnachtsmann springt auf der anderen Seite in den Wagen und augenblicklich setzt sich das Taxi in Bewegung und fließt mit den Menschen zusammen die Straße hinauf und aus meinem Blickwinkel. Die Dame heißt Frau Silbermann und der Weihnachtsmann war Herr Bogener. Ich werde sie wohl nicht wiedersehen und bin fast etwas wehmütig in meiner absurden Situation. So nehme ich Abschied von den beiden. Und so nehmen die beiden Abschied von mir.
Frau Silbermann ist eine liebenswürdige Dame mit einer außerordentlichen kriminellen Energie. Herr Bogener ist ihr Knecht Ruprecht fürs Grobe. Vielleicht ist er ihr sogar in höchst privaten Dingen dienlich. Doch das heraus zu finden ist nicht meine Aufgabe gewesen. Aber fast. Anfang März war ich Teilnehmer einer Gemeinschaftssitzung verschiedener Dezernate. Wir werteten die Vorjahresstatistiken aus und berieten über die neuen Dienstpläne. Außerhalb des Protokolls bat mich Johannsen, doch nach der Sitzung nicht gleich den Saal zu verlassen. Wir hätten noch etwas zu besprechen. Mit mir blieben vier weitere Kollegen aus anderen Fachgruppen.
Johannson verteilte Dossiers und ließ nochmals Kaffee holen. Er wartete bis wir völlig unter uns waren und begann dann mit der Wiedergabe eines vertraulichen Berichtes aus dem Innenministerium. Seit circa drei Jahren beobachteten verschiedene Quellen eine Konzentration nachrichtendienstlich relevanter Vorgänge auf die letzten sechs Wochen des Jahres. Auf die Frage eines Kollegen erläuterte Johannson, es sei nicht explizit ausgeführt, aber in einem Vier-Augen-Gespräch war ihm vermittelt worden, dass es sich hier um Erpressungen, illegale Abhörungen und Liquidierungen im Geheimdienstmilieu handelte. Das gehäufte Auftreten in den Dezemberwochen war den Ermittlern zunächst völlig unklar. 2003 fanden belgische Ermittler in Antwerpen bei einer Hausdurchsuchung höchst verdächtige Gegenstände. Man stellte zwei Pakete Wunderkerzen und fünfzehn Stück Weihnachtsbaumbehang sicher. Die Labortechniker sollten eigentlich nur auf Fingerabdrücke prüfen, entdeckten aber erstaunliche und unvermutete Eigenschaften. Die Wunderkerzen gaben beim Abbrennen große Mengen der Substanz Mitralotin frei. In geschlossen Räumen war eine einzige Kerze in der Lage, bis zu 50 Menschen für mindestens 30 Minuten außer Gefecht zu setzen. Der Baumschmuck war zum größten Teil herkömmlicher Natur, zwei Stücke wiesen allerdings außergewöhnliche Modifizierung auf. Eine etwa handlange Engelsfigur war mit einer CCD-Kamera und einem hochempfindlichen Mikrofon bestückt. Mittels Stellmotoren an den Flügeln konnte die Kameraperspektive frei gewählt werden. Das eingebaute Funkmodul sendete Daten mit einer Reichweite von über zwei Kilometern. Übertroffen wurden diese Exponate jedoch von einer mundgeblasenen Christbaumkugel, die per Fernzündung eine Mischung aus verschiedenen Brandbeschleunigern neuester Generation freigeben und zünden konnte. Einige Monate später konnten Kollegen in Frankreich durch die Arbeit der Belgier mehrere bis dato ungeklärte Todesfälle klären, die sich allesamt im Weihnachtsmilieu ereignet hatten. In den folgenden Wochen wurde eine länderübergreifende Ermittlung durchgeführt. Diese zog zwar keine weiteren Beschlagnahmungen nach sich, gab aber Aufschluss über die Verbreitung von „schwarzen Engeln“, wie die Klasse von illegalen Waffen und Geräten dieser Art mittlerweile genannt wurde. Demnach waren derlei Gegenstände in fast allen europäischen Nachbarländern Deutschlands in Umlauf, mit einer bevorzugten Ausbreitung Richtung Westen. Und es verdichteten sich Hinweise auf eine Herkunft aus dem Osten Deutschlands.
Zwei Wochen vor unserer Sitzung bei Johannson war bei einer Vernehmung in Köln zufällig eine Querverbindung nach Leipzig aufgetaucht. Nun war ein Vorgang dieser Größenordnung eigentlich Sache der übergeordneten Einrichtungen auf Bundesebene, aber Johannson witterte vielleicht insgeheim eine Chance, sich an höherer Stelle bemerkbar zu machen. Es war kein Geheimnis, dass er weiterkommen wollte. Jedenfalls setzte er uns vor 8 Monaten gezielt und ohne offizielle Order auf die Sache an.
Ich verbrachte den ganzen Sommer zwischen Engelsfiguren, Glasbläsereien und Weihnachtsartikeln. Ich untersuchte Einfuhrpapiere, überprüfte Großhändler, besuchte Manufakturen und Schnitzer. Ich grub Container voller Rauschebärte aus China um, ohne auch nur ein einziges verdammtes und verdächtiges Räucherkerzchen zu finden, bis am 16. Oktober 13:21 Uhr mein Wagen explodierte, während ich mir einen Krokantsplitter kaufte. Da wusste ich: Du bist auf der richtigen Spur. Und ich wusste auch, das nächste, was explodieren kann, ist vielleicht der Krokantsplitter und warf ihn weg. „Dranbleiben!“, schrieb mir Johannson per e-mail aus dem Urlaub. Er hatte gut Schreiben.
In den Wochen vor der Detonation war Frau Silbermanns Weihnachtsbedarf-Großhandel von mir durchleuchtet worden. Wer immer mir Informationen über ihre Person oder ihre Geschäfte gab, vergaß niemals zu erwähnen, was für ein netter und gütiger Mensch sie war. Und man versicherte mir auch stets, egal welche Motivation meine Frage haben mochte, dass Frau Silbermann, wenn überhaupt, dann nur zu Unrecht verdächtigt werden konnte. Und je öfter ich das hörte, desto mehr kam ich mir ungerecht vor. Bis ich sie heute besuchte.
Ich war unangekündigt in ihr Büro in der siebenten Etage eingetreten, aber im Nachhinein bin ich mir sicher, dass sie seit Wochen über jeden meiner Schritte informiert war. Todsicher bin ich mir da. Herr Bogener nahm mir sofort den Mantel ab. Frau Silbermann kam aus ihrem Büro und begrüßte mich herzlich und inklusive meines zweiten Vornamens, den eigentlich niemand auf der Welt wissen konnte. Frau Silbermann roch nach Mandeln und Zimt und beide reichten mir Dominosteine. Sie selbst aßen nichts und ich wurde noch immer nicht stutzig, sondern erkundigte mich unschuldig nach Umfang und Gang der Geschäfte. Dann begannen die Dominosteine zu wirken. Binnen weniger Augenblicke verschwammen die Gesichter der beiden, ihre Stimmen wurden hohl und blechern. „Er ist soweit, Herr Bogener“, hörte ich Frau Silbermann sagen, „aber beeilen sie sich, das Flugzeug muss vor sieben Uhr starten.“ Und dann nahm ich mit einem verschwommenem Wohlbehagen war, wie mich Herr Bogener knebelte und verschnürte, und wie er mich schließlich sorgfältig in ein Weihnachtsmannkostüm einfüllte.
Das war vor 2 Stunden. Jetzt bin ich wieder klar, aber es nützt mir nichts. Ich hänge in einem tadellos gearbeiteten Kostüm inklusive Sack und Rauschebart an einer Fassade im siebenten Stock und sehe das Taxi von Frau Silbermann verschwinden. Kinder sehen zu mir hoch und winken. Mütter lachen, weil sie denken, ich sei eine Puppe. Ich würde so gerne mitlachen, aber selbst wenn ich in ein zwei Stunden noch nicht erfroren sein sollte: ich glaube, dass der Sack auf meinem Rücken tickt. Das macht mir Angst. Können sie das verstehen?
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