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Ich wähle die Nummer von Frau Tannhäuser. Das an sich ist nicht spektakulär, aber ich wähle, während zu meinen Füßen der Gardasee leise schlafen geht. Ich höre dem Knistern und Tuten zu und blicke auf den Monte Baldo, und der Berg blickt freundlich zurück. Er freut sich, wenn Gäste da sind. Diese Gäste fahren mit einer unsagbar teuren Seilbahn auf seinen Rücken und seufzen oder staunen still vor sich hin, wenn sie oben aussteigen. Sie schnüren ihre Wanderstiefel auf und zu, entwirren ihre bunten Bergwanderstöckchen und atmen so tief ein, als wollten sie das Atmen an sich für die nächsten Stunden überhaupt erst einmal sein lassen. Dann zeigen sie einander, wo welche Gebirgskette zu sehen sein müsste, zerfuchteln die Stille mit ihren Windjacken-Ärmchen und geben erst Ruhe, wenn jeder für sich Recht hat oder wenn ein Einheimischer die Sache klärt. Und der Berg lächelt dazu. Ja, so vergeht der Tag, wenn man ein Bergrücken ist. Ich aber bin kein Bergrücken und ich versuche von meinem Urlaub aus Frau Tannhäuser anzurufen, weil es vor der Abfahrt nicht geklappt hat.
Meine Familie sieht mich nur selten. Wir müssen von Zeit zu Zeit in den Urlaub fahren, damit sich die beiden wieder an mich gewöhnen können und nicht mehr erschrecken, wenn ich mich in unserer gemeinsamen Wohnung aufhalte. Frau und Kind sind schon zum Essen vorausgegangen. Ich bin hungrig und höre das Tuten. Gleich werde ich mich wieder in die Schlange an der Salatbar einordnen müssen. Ich werde, die Besteckattacken der anderen Gäste abwehrend, ums nackte Überleben kämpfen. Antipasti werden zur Nebensache, ein Bonus, unverhofftes Glück. Nichts weiter. Seit meinen Erfahrungen auf früheren Reisen nehme ich zuerst einen leeren Teller vom Stapel und schütze damit die wichtigsten Weichteile. Der gemeine Salatbüfetttourist ist zu langsam. Hat er sich endlich zwischen gegrilltem Paprika und saurem Blumenkohl entschieden und stößt den Löffel tief in die Schüssel, drängt ihn die murmelnde Masse auch schon weiter und am sorgsam Gewählten vorbei. In seiner Panik leert er den gesamten Löffel auf seinen Teller und fließt weiter in der Menge, mit einem Teller zu voll von dem einem und zu voll für das andere. Missmutig lässt er sich den Kübeln mit dem Dressing entgegentreiben und wünscht sich, wie so oft im Leben, eine zweite Chance. Ich bin klüger. Durch sanftes Zurückbleiben lasse ich vor mir ein Urlaubervakuum entstehen in das ich dann blitzschnell und voller Entschlossenheit hineinstoße, um mir mit präzise trainierten Bewegungen die vorher ausgewählten Speisen auf den Teller zu werfen, wie ein guter Jongleur, mehrere Sorten scheinbar gleichzeitig. So wirke ich für Momente wie ein Mensch mit sieben Armen. Ich bemerke das neidische Staunen anderer Gäste. Hinter mir versuchen gierige Dilettanten das Gesehene zu kopieren und scheitern kläglich, im günstigsten Fall nur mit oberflächlichen Wunden. Dann kommt die letzte Hürde: das Dressing. Die Fraktion der Missgünstigen vor mir, noch immer beeindruckt von meiner Technik und der Vielfalt auf meinem Teller, sucht mich nun durch tückisches Aufbrauchen der Soßen zu züchtigen, will mir mit dieser letzten Gemeinheit die Genugtuung, den Punktsieg des ersten Ganges nehmen. Mit rudernden Armen schaufeln sie die roten, weißen und durchsichtigen Flüssigkeiten auf die Tischdecke, den Teppich, auf ihre Blusen und Krawatten und einen kleinen Teil davon sogar auf ihre Teller. Und gerade dann, wenn sie mit den gehamsterten Baguettescheibchen in ihrer Rachsucht noch den letzten Tropfen aus den riesigen Kübeln gewischt und getupft haben, kommen Alfredo, Roberto oder Stanislav und füllen die Kübel wieder bis zum Rand. So etwas macht mich glücklich. Darauf freue ich mich, während ich das Tuten höre.
Ich habe zu sehr über den Salat nachgedacht und das Wasser läuft mir im Mund zusammen und ich muss schlucken, als die Verbindung steht. Ich habe jetzt Appetit und deshalb pressiert es, wie der Bayer so schön sagt. Ich werde alles akzeptieren, wenn ich nur schnell zum Essen komme. Ich habe mir einen Titel ausgedacht, den werde ich Frau Tannhäuser mitteilen, noch etwas Freundliches sagen und dann ab an die Salatbar.
Aber es ist anders. Frau Tannhäuser freut sich, dass ich sogar aus dem Urlaub noch anrufe und sie hätte das ja gar nicht mehr vermutet. Aber mit dem Titel, das sei so eine Sache, den habe sie schon angeben müssen, wegen der Plakate und dem Landboten und so. Also frage ich. Na ja, sagt sie: „Kurz und überraschend.“ Sie lacht und sagt: „Damit müssen sie jetzt leben.“ „Na klar“, sage ich und denke ans Büffet, „da mache ich doch was draus“, und lache. Und bedanke ich mich für meinen Anruf und lege auf. Vor mir hat sich der Monte Baldo aufgebaut und in mir ein alles vernichtender Appetit. Und ich lächle zum Monte Baldo. Und der Monte Baldo lächelt zurück und sagt: „Du Trottel!“ Und während ich nachdenklich die Stufen zum Speiseraum hinunterschlurfe wird mir auch klar, was er meint. Was für ein Titel! Was für ein Versprechen! „Kurz und Überraschend!“ Na klar, ich bin eben mal überraschend, kurz und überraschend. So muss es Böttger in Meißen gegangen sein: Gold, klar! Kein Problem! Wann brauchen sie es? Oder Helmut Kohl: Blühende Landschaften! Natürlich. Es gibt so viele Beispiele von an einer Erwartungshaltung gescheiterten Männern. Warum muss ich da reingeraten? Was soll das?
Was ist wirklich kurz und überraschend, frage ich mich, während die ersten Gäste den Speiseraum schon wieder verlassen. War ich kurz und überraschend für meine Eltern? Kurz war ich auf jeden Fall. Überraschend wohl kaum, allenfalls das Geschlecht. Ich war das zweite Kind, es ist also anzunehmen, dass sie mit dem Vorgang an sich vertraut waren. Kurz und überraschend kann zum Beispiel ein Körpergeräusch sein, aber das ist selten ein Grund ungeteilter Freude. Meist erheitert es einseitig und ungewollt. Zwei Gäste vor mir in der Schlange am Büffet wird eine bedauernswerte Dame von einem nicht mehr zu verheimlichenden Schluckauf heimgesucht. Einem Singultus, wie wir seit Günter Jauch wissen. Die gebratenen Zucchini sind gerade aus. Darauf möchte aber keiner verzichten und deshalb entsteht sofort ein Salatstau. Also kann ich die schluckende und zuckende Frau länger beobachten. Zwischen den Anfällen versucht sie, ihren eigenen und einen geheimnisvollen zweiten Teller mit Speise zu versorgen, scheitert aber immer wieder an der periodischen Erschütterung ihres Oberkörpers, der Reissalat rieselt wieder heim in seine Schüssel, eine hartes Ei hüpft ihr kurz vor dem Teller wieder von der Gabel, ungewollt dekoriert sie die Tafel großflächig mit Ruccola. Als der Schluckauf weiter anschwillt, wird er für die Dame auch zum akustischen Problem. In Erwartung der nächsten Welle presst sie die Lippen zu einem dünnen Strich, die Augen zu Schlitzen, verschließt alle übrigen Körperöffnungen so gut es geht und wartet. Die Tücke des Schluckaufs liegt auch in seiner Unzuverlässigkeit. Da die nächste Eruption doch länger auf sich warten lässt, lockert die Frau ihre Körperspannung für den Bruchteil einer Sekunde und das genügt für einen neuen und alles in den Schatten stellenden Ausbruch. Sie macht ein Geräusch wie eine sehr defekte Hydraulik und verteilt dabei das wenige, was auf den Tellern geblieben war auf Ihren Schuhen. An dieser Stelle gibt sie auf und zieht sich still zurück. Bereits als sie den Aufzug erreicht, ist offensichtlich, dass die Fehlfunktion sie verlassen hat. Hoffentlich ist er nicht am Büffet geblieben, denke ich noch und merke, dass ich Schluckauf bekomme.
Es ist nicht meine erste Lesung, aber ich werde wie immer aufgeregt sein und diesmal sogar ein bisschen aufgeregter, weil es ja in meiner Heimatstadt ist und das liegt mir am Herzen. Nun gibt es da einen Trick, die Aufregung vor Publikum zu vermeiden. Man soll sich einfach die Anwesenden in Unterwäsche vorstellen. Diesen Ansatz verwerfe ich aber umgehend, als mir klar wird, dass einige der Anwesenden mich womöglich tatsächlich schon in Unterwäsche gesehen haben. Man denke hier nur an Mediziner, Sportlehrer oder Bademeister. Also beschließe ich mit Rücksicht auf die gegenseitige Privatsphäre lieber aufgeregt zu bleiben. Ich denke an etwas Schönes.
Gestern waren wir in Verona. Vor Ergriffenheit und Eleganz der Stadt sagte ich zu meiner Frau ständig Verona und versuchte, den wunderbar gekleideten Frauen nicht ständig nachzusehen, tat es aber dennoch manchmal. Mein Sohn ließ sich von Gelateria zu Gelateria treiben und verleckte Summen in vierstelliger Höhe. Ich finde es sehr verdächtig, dass ich in jedem zweiten Reiseführer über den Gardasee lesen muss, dass die Autoren sich früher oder später hier niedergelassen haben. Ich finde Phrasen wie: .. einige Jahre später wagten sie den Sprung in die Selbstständigkeit... heute leben beide... haben die Entscheidung nie bereut... Und ich bin voller Neid. Die gewissenlose und verbrecherische Reiseindustrie hat Italien nur erfunden, damit wir im ganzen Jahr unsere stets zu kurzen Träume mit dieser Sehnsucht füllen. Einer Sehnsucht nach dem perfekten Land. Als ich das denke, fällt mir unsere Bootsfahrt von Malcesine nach Limone ein. Da macht der Italiener eben was draus: Überall hält man einem Limonen unter die Nase, aus Porzellan, aus Gummi, aus Kupfer und aus Marzipan. Man weiß gar nicht mehr, aus was alles. Toll! In Deutschland wäre das nicht so einfach. Wenn eine Stadt beispielsweise Tomate hieße, dann würden sich die Einwohner von Tomate schämen. Sie würden selbst nicht wissen, ob sie sich nun Tomateser und Tomateserinnen oder einfach nur Tomaten nennen lassen sollten. Sie würden die Stelle in ihrem elektronisch lesbaren Ausweis mit wasserfestem Stift schwärzen. Sie würden alles dafür tun, um die Eingemeindung in Niederseifertsdorf zu forcieren. Sie würden lügen und erpressen um nie mehr in Tomate wohnen zu müssen. So sind wir. Da haben wir den Salat.
Was ist kurz und überraschend? Warum schreibe ich und wie geht es weiter? Mit dem zweiten Gang. Pasta mit Spinat. Ich gehe im Geiste mein altes Material durch. Es sollte ja auch etwas Neues dabei sein. Wenigstens die Hälfte. Ach was! Kurz und überraschend! Alles Neu! Alles Premieren! Um mich herum wird es dunkel. Aber es ist keine Ohnmacht, sondern Alfredo, Roberto und Stanislav tragen nur den nächsten Gang durch die Gäste. Es sind Wunderkerzen ins Lebensmittel gesteckt und ich denke ans Traumschiff. Und daran denken Alfredo und Stanislav auch. Roberto sieht so aus, als denkt er im Moment an nichts oder jedenfalls an nichts Gutes. Denn alle paar Zentimeter werden sie an den Tischen zum Stehen gezwungen. Digitalkameras blitzen auf, machen komische künstliche Geräusche und bannen die Bilder auf ihre Speicherkarten: Maritta mit Mehlklößen, Klaus mit Kraut, Peter mit Pute. Erst hält man die Speiseprozession dauernd auf und dann geht es den Störern zu langsam. Beunruhigt scharren sie mit dem Besteck auf den Tischtüchern, sehen nach, ob noch ein Notkrümel im Brotkörbchen steckt, der sie über die nächsten unendlichen Minuten rettet. In Panik beginnen bereits einige damit, sich selbst zu verdauen. Der Augenblick, in dem alle Teller verteilt sind, ist der einzige ruhige Moment des Tages. „Kurz und überraschend“ denke ich, während ich kaue. Alfredo räumt den Teller ab. Roberto bringt das Obst bringt. Ich denke weiter an Thema und Geschichten, an Limone, an meine Waage zu Hause. Später sinke ich in einen traumlosen Schlaf. Am Morgen weiß ich, wie ich mich aus der Affäre ziehe: Von wegen „Kurz und überraschend“! Ich mache die Sache anders. Ich mache die Sache überraschend kurz!
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